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Ulrike WÖHR

DIE AMBIVALENZ DES LEBENS UND DIE UNMÖGLICHKEIT DER RELIGION: MORIOKA MASAHIRO UND SEINE SEIMEIGAKU

-- Ursprünglicher Erscheinungsort: 11. Deutschsprachiger Japanologentag in Trier. Bd. I: Geschichte, Geistesgeschichte/Relgionen, Gesellschaft, Politik, Recht, Wirtschaft, hrsg. von Hilaria Gössmann und Andreas Mrugalla. Hamburg, LIT-Verlag, 2001, pp. 675-689.

*Redaktion der digitalen Version: Tohru AMEMIYA.
*In Kursivschrift gesetzte Zahlen in eckigen Klammern (z.B. [675/676]) verweisen auf Seitenwechsel im ursprünglichen Text.

 

Das „neue Paradigma“

Der vorliegende Artikel gibt einen Einblick in die japanische Variante jener Ideenwelt oder Bewegung, die in den USA und in Europa häufig mit dem Begriff „New Age“ zusammengefaßt wird. Darüber hinaus befaßt er sich mit einer Kategorie von japanischen Intellektuellen, deren Publikationen zum Kanon jener Bewegung zählen. Mit dem Ethiker Morioka Masahiro stelle ich einen Autor vor, der eine steile Laufbahn in den etablierten wissenschaftlichen Institutionen Japans vorzuweisen hat,1 dessen Bekanntheit sich jedoch auf seine von Zehntausenden gelesenen populären Schriften und seine Beiträge und Auftritte im Fernsehen gründet.2 Ich stelle Moriokas Ideen zunächst vor und analysiere sie sodann im Hinblick auf das populäre Umfeld des japanischen „New Age“ und auf die von dem Religionswissenschaftler Shimazono Susumu geprägte Kategorie des „spirituellen Intellektuellen“.
        In seinen Büchern entwirft Morioka eine „neue“ Wissenschaft, die gleichzeitig eine neue Seinsweise begründen soll. Ein grundlegendes Postulat seiner neuen „Wissenschaft vom Leben“ (seimeigaku) ist die Überwindung nicht nur der Trennung zwischen den Disziplinen, sondern auch der Mauern des akademischen Elfenbeinturms. [675/676]
   
    Ein „neues Paradigma“, das den sogenannten „Akademismus“ (akademizumu) der Wissenschaften durchbrechen soll, kann Morioka zufolge nur von Laien oder mit einer dem Laientum entsprechenden Haltung konzipiert werden (Morioka 1988, S. 266; 1993a, S. 207). „Laientum“ heißt in Moriokas Worten, „in der Forschung getreulich den Fragen nach[zu]gehen, die im eigenen Inneren aufsteigen“ (1993a, S. 207). Das Grundthema des Ethikers Morioka ist die Frage nach der richtigen Lebensführung. Konkret äußert sich dies in der Fragestellung, „wie die von Menschen geschaffenen Technologien den Menschen und die Gesellschaft verändern“ und „wie die Menschen in einer von jenen Technologien geprägten Umwelt miteinander kommunizieren und in Beziehung treten sollen“ (ibid., S. 6). Morioka beschränkt sich jedoch in seinen Schriften nicht auf Fragen der sozialen Verantwortung, sondern entwirft mit seiner „Wissenschaft vom Leben“ auch eine Methodologie der Suche nach dem Sinn des menschlichen Daseins.



Das Konzept des inochi

Die westliche Bioethik krankt Moriokas Auffassung nach daran, daß sie vom modernen Prinzip des freien Bürgers ausgeht und daher weder den Anspruch hat noch über das Instrumentarium verfügt, das „moderne Paradigma“ zu überwinden (Morioka l994a, S. 94). Sein eigenes Konzept des Lebens entwickelt Morioka auf der Grundlage der von ihm selbst empirisch untersuchten Vorstellungen, die heutige Japanerinnen und Japaner mit dem Begriff inochi („Leben“) verbinden (Morioka 1993b).
    Er zeigt, daß die Eigenschaften, die dem inochi real zugeschrieben werden, in sich widersprüchlich sind. Das Leben im Universum sei demnach einerseits durch „Individualität“ und andererseits durch Zugehörigkeit zu einer grenzenlosen „Sphäre“ strukturiert. Die Betonung der „Individualität“ führe zu einer „individualistischen, atomistischen“ Einstellung, die Hervorhebung der „Sphäre“ fördere eine „holistische“ Auffassung des inochi. Im Idealfall jedoch sollen beide Prinzipien sich in der Balance befinden (Morioka 1993b, S. 53).
    Die „individualistische, atomistische“ Komponente des inochi muß wohl mit dem gleichgesetzt werden, was Morioka weiter oben in dem hier zitierten Artikel als „Tendenzen der modernen Zivilisation“ bezeichnet, die „zu tief verwurzelt“ seien, „um durch Moralpredigten geändert werden zu können“ (Morioka 1993b, S. 49). Zu deren Auswirkungen zählt er die globale Umweltzerstörung und immer heftigere ethische Kontroversen im Zusammenhang mit der Anwendung moderner Technologien in der Medizin. Diese Entwicklungen seien Folgen „des Eindringens der wissenschaftlichen Technologie in den Bereich des ,Lebens‘“(ibid., S. 35). Moriokas Philosophie des inochi beim Wort zu nehmen, heißt jedoch, diese negativ charakterisierten Kräfte als eine der Koordinaten des Lebens selbst anzunehmen. [676/677]
    Hier offenbart sich ein grundlegender Widerspruch in Moriokas Denken: Seine grundsätzlich modernekritische Haltung steht unvermittelt neben der Bekräftigung, daß beide scheinbar widersprüchlichen Prinzipien - das „holistische“ des Verbundenseins und das „individualistische“ des Getrenntseins - gleichermaßen zum Leben gehören, und der normativen Forderung, eine Harmonie zwischen diesen beiden Prinzipien herbeizuführen (Morioka 1993b, S. 53).
    Liest man Moriokas Publikationen in chronologischer Abfolge, so wird deutlich, daß seine Auffassungen vom Leben und vom Individuum sich fortlaufend verändern. Das Oszillieren zwischen einer kritischen und einer affirmativen Haltung gegenüber modernen Erscheinungen in unserer Lebenswelt kann jedoch als Konstante seines Denkens bezeichnet werden. Auch die Veränderung in Moriokas Philosophie kann als Entwicklung von einer eher „holistischen“ zu einer eher „individualistischen, atomistischen“ Position beschrieben werden.


Der „innere Feind“ und das auf sich gestellte Individuum

Morioka selbst thematisiert einen grundlegenden Wandel in seiner Haltung und begründet diesen mit einem persönlichen Erlebnis. Seine Einstellung vor diesem Bruch beschreibt er folgendermaßen:
[. . .] mit dem Kopf philosophierte ich nach wie vor über Harmonie und eine symbiotische Gemeinschaft der Lebewesen (kyosei). Nur meinen Kopf setzte ich ein, um herauszufinden, wie die Wissenschaftsgläubigkeit (kagakushugi) und das System der Moderne, die jene Harmonie und jene Gemeinschaft zerstört hatten, zu überwinden seien (Morioka 1996, S. 131).
Das, was Morioka als „entscheidende Wende“ (1996, S. 132) seines Denkens darstellt, wurde schließlich nicht von seinem Kopf, sondern vom Leben selbst herbeigeführt: Mit 30 wurde er Vater und kümmerte sich, seinem eigenen Anspruch gemäß,3 möglichst viel um das Kind. Allein, Anspruch und Realität waren nicht immer leicht zu vereinbaren, und eines Tages mußte sich der harmoniebesessene Philosoph als entnervter, von Mordgedanken heimgesuchter Aggressor eines hilflos schreienden Säuglings erleben (ibid., S. 131f.):
Die Entdeckung meiner gewalttätigen inneren Impulse, die sich gegen mein eigenes Kind richteten, machten meine bisherige Philosophie zunichte. [. . .] Der Feind befand sich nicht außerhalb. Er nistete nirgendwo anders als in meinem eigenen Inneren (ibid., S. 132). [677/678]
Die in seinem ersten Buch als Mittel der Überwindung des cartesianischen Mechanizismus und Dualismus propagierte Philosophie der Gemeinschaft mit allen Wesen sei ein falscher Trost, der zudem vom „System“ selbst geschickt vermarktet werde (Morioka 1994a, S. 193). Umweltzerstörung und moralische Aushöhlung der Gesellschaft bedrohen uns nicht, weil wir das Leben mißachten, sondern, so Morioka, weil die Lebensgier, die dem Leben selbst innewohnt, uns dazu treibt, die Natur zu unterwerfen und zu kontrollieren. Den Siegeszug des cartesianischen Mechanizismus und Dualismus, der modernen Wissenschaft und Technologie führt Morioka darauf zurück, daß diese jenen gierigen, selbstsüchtigen Aspekten des Lebens am ehesten entgegenkommen.
    Aus der Erkenntnis, daß der Feind nicht außerhalb, sondern innerhalb des Menschen zu suchen sei, entwickelt Morioka seine sogenannte „Philosophie der Unlauterkeiten“ (bonno no tetsugaku).4 Hier sei zunächst erwähnt, daß damit ein Prozeß der Selbsterkenntnis und der Arbeit an sich selbst gemeint ist, den jede(r) für sich allein durchlaufen muß. Die Betonung liegt auf „allein“, und dies verweist sowohl auf ein Axiom als auch auf einen normativen Satz des Moriokaschen Denkens: Der Mensch ist allein und muß allein bleiben (e.g., 1988, S. 266; 1993a, S. 120f.).
    Alleinsein, d. h. geistige Unabhängigkeit als Norm ergibt sich für Morioka aus dem schrecklichen Untergang der Omu Shinrikyo sowie aus der als Parallelfall konstruierten, tragischen Geschichte des japanischen Popstars Ozaki Yutaka (1966-1992), der Morioka zufolge an seiner eigenen Popularität scheiterte. Als Ursache der Katastrophe diagnostiziert Morioka in beiden Fällen die unzulässige Übertragung der Verantwortung für die „Heilung“ (iyashi) und „Erlösung“ (kyusai) von vielen auf einen einzelnen (Morioka 1996, S. 176f.). Grund allen Übels ist die Struktur einer Gruppe, in der einer spricht und die anderen zuhören, einer denkt und die anderen denken lassen (ibid.).
    Alleinsein ist die Grundlage einer neuen Identität - der Schlüssel für das Dasein im „religionslosen Zeitalter“. Morioka formuliert dies einerseits als eigenes Bekenntnis und andererseits als Angebot an seine Leserinnen und Leser:

Ich möchte aber den Fragen nach dem Sinn meines Daseins, nach dem Sinn von Leben und Tod und danach, wer ich wirklich bin, mit den eigenen Augen und dem eigenen Kopf nachgehen, ohne mich auf den Weg der Religion zu begeben (1996, S. 56). [678/679]
Ihr alle, die ihr euch dieselben Fragen stellt wie ich, und die ihr nicht wißt, wohin ihr euch damit wenden sollt! Auch euch fordere ich auf, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, indem ihr euch auf die eigenen Füße stellt und euer eigenes Tempo verfolgt (ibid., S. 64).

Das anonyme Netzwerk

Trotz aller Vorbehalte gegenüber der organisierten Wahrheitsuche, innerhalb akademischer Institutionen ebenso wie in religiösen Gruppen, gesteht Morioka den Menschen doch ein Minimum an geistiger Gemeinschaft zu. Bereits in seinen frühen Publikationen konzipiert er ein „loses“ Netzwerk des Informationsaustauschs als Alternative zum „Akademismus“ der institutionalisierten Wissenschaft (Morioka 1988, S. 266; 1993b, S. 55). Die Katastrophe der Omu Shinrikyo veranlaßt Morioka dazu, seine Idee des Netzwerks auf die gegenseitige Leistung seelischen Beistands auszudehnen. Allerdings sieht er auch hier noch die Gefahr einer Abschiebung der eigenen Verantwortung lauern. Deshalb verneint er jede „freundschaftliche Verbindung“ (majiriau koto) unter den Netzwerkern (Morioka 1996, S. 65). Hilfe könne nur bedeuten, dem anderen „von ferne“ Mut zuzusprechen und ihm zu signalisieren, daß er nicht allein sei (ibid., S. 4, 65, 216f.).
    Kennzeichnend für die Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Netzwerks ist der Begriff der Anonymität (tokumeisei; 1996, S. 65). Indem er Anonymität zum Grundsatz zwischenmenschlicher Beziehungen macht, wertet Morioka einen Schlüsselbegriff moderner Zivilisationskritik positiv um. Bereits in einem 1993 publizierten kommunikationstheoretischen Werk Moriokas ist die Idee der Anonymität von zentraler Bedeutung: Das wichtigste Merkmal der über elektronische Medien vom Telefon bis zum Computer vermittelten Kommunikation sei die Gewährleistung der teilweisen oder völligen Anonymität der Kommunikationspartner. Gerade auf dieser Uneindeutigkeit beruhen Morioka zufolge die besonderen Möglichkeiten dieser Medien (Morioka 1993a, S. 10ff.). Im Alltag unterdrückte Aspekte der menschlichen Persönlichkeit könnten unter dem Schutz der Anonymität zum Ausdruck gebracht werden (ibid., S. 40f., 13lff.).
    Morioka geht so weit, die „anonyme Gemeinschaft“ (tokumeisei no komyuniti; 1993a, S. 76ff.) als neue soziologische Kategorie einzuführen. Als typisches Beispiel konstruiert er die „anonyme Gemeinschaft“ der Flaneure in Großstadtvierteln wie Tokyos Roppongi oder Harajuku, die über die von ihnen zur Schau getragene Mode subtil miteinander kommunizieren (ibid., S. 67ff., 78ff.). Ein weiteres Beispiel ist der über das Internet geführte sogenannte chat, bei dem sich beliebig viele Teilnehmer in einem „fiktiven Raum“ (kyoko kukan) treffen und sich - meist unter einem Pseudonym (handoru nemu) - über ihren Bildschirm miteinander unterhalten (ibid.,S. 22ff.,78ff.). [679/680]


Medientechnologie und Popkultur

In Moriokas Einstellung zu moderner Medientechnologie und zu populären Kulturformen der Gegenwart wie Mode, Zeichentrickfilm und Popmusik zeigt sich seine positive Haltung gegenüber modernen Erscheinungen.
    So schreibt er dem Gebrauch von Telefon, Radio und Computer als „anonymen Gruppenmedien“ heilende Wirkung zu. Er geht von dem Beispiel live gesendeter Hörer-Programme im Radio aus, die aus telefonischen Beiträgen der Hörer bestehen (1993a, S. 157f.). Solche Kommunikationsformen, die zwar nicht zur Anonymität verpflichten, sie aber doch immerhin ermöglichen, besitzen Morioka zufolge das Potential, das „gesellschaftliche Unterbewußte“ (shakai no muishiki) zum Ausdruck zu bringen, mit anderen Worten: die Gesellschaft träumen zu lassen (ibid., S. 153ff.).
    Morioka entwirft ein phantastisches Science-fiction Szenario, indem er die Form der moderierten Radio-Talkshow oder des von einem „Gastgeber“ begleiteten Internet-Chats auf die multimedialen Möglichkeiten der Zukunft projiziert (1993a, S. 169ff.). Noch phantastischer wirkt die Figur des Moderators oder Gastgebers in dieser multimedialen Welt, den er als professionellen Traumarbeiter, als „Traum-Navigator“ (dorimu nabigeita) konzipiert (ibid.).
    Allerdings kommt auch die nicht zu verleugnende Ambivalenz des Autors im Hinblick auf moderne Technologien zum Ausdruck. Zum Beispiel beschwört er einerseits die heilende Wirkung der „elektronischen anderen Welt“ (denshi takai) (1994b, S. 11f.), beklagt jedoch andererseits, daß die moderne Technologieentwicklung elementare Bedürfnisse des Menschen mißachte (ibid., S. 31).
    Grundsätzlich läßt sich Moriokas Einstellung zu neuen Medien und Technologien jedoch als positiv, ja manchmal fast naiv beschreiben:
Überlegen Sie einmal, wie viele allein lebende alte Menschen durch die Verbreitung des Telefons von Angst und Unsicherheit befreit wurden. Und wieviel Trost sie durch das Plaudern am Telefon erfahren haben. Überlegen Sie, in welchem Maß die Verbreitung des Fernsehens die Alten von der Einsamkeit befreit hat. [. . .] Auf dieselbe Weise werden Computerspiele und Multimedia-Datenübertragung Trost in das Leben der alten Menschen bringen (1994b, S. iii).5 [680/681]
Moriokas unverkrampfte Haltung gegenüber modernen Phänomenen manifestiert sich außerdem in seiner häufigen Bezugnahme auf die Populärkultur der Gegenwart. Am Schicksal des Popstars Ozaki Yutaka zeigt er die Gefahren des Charisma, aber in den Texten Ozakis findet er Elemente seiner eigenen Philosophie wieder (Morioka 1996, S. 140ff.). Er gesteht, daß Ozakis Musik ihm über schwierige Zeiten hinweggeholfen habe (ibid., S. 140) und bekräftigt, daß seine eigene Arbeit dort beginne, wo Ozaki gescheitert sei (ibid., S. 179). Auch bestimmte Zeichentrickfilme macht er nicht bloß zum Gegenstand kulturtheoretischer Überlegungen, sondern schreibt darüber aus der Sicht des Konsumenten. So bekennt er sich zum Beispiel zum Fan des Mädchens Naushika in Miyazaki Hayaos „Öko-Fabel“ (Schilling 1997, S. 141) Kaze no tani no Naushika („Nausikaä aus dem Tal der Winde“; Inoue/Morioka 1995, S. 127ff.).6
    Letztlich ist es aber immer eine tiefere Bedeutung, die Morioka hinter den modernen Phänomenen sucht: die Tiefenschichten des gesellschaftlichen Bewußtseins, die sich in der elektronisch vermittelten Kommunikation offenbaren; die Sinnsuche des einsamen Popstars (Morioka 1996, S. 141ff.) und der eigentliche Sinn seines tragischen Scheiterns; die läuternde, ja religiöse Wirkung des mädchenhaften Eros der Nausikaä (Inoue/Morioka 1995, S. 132ff.).


Naturwissenschaft, Religion und der „Dritte Weg“

Das Streben nach dem Guten, nach Erkenntnis und Transzendenz bezeichnet Morioka als „Religiosität“ (shukyosei; Morioka 1995, S. 132, 135; 1996, S. 157). Diese wird in Moriokas Büchern durchweg positiv bewertet. Sie ist definiert durch die Fragen, die an das „Wesen des menschlichen Lebens“ rühren (Morioka 1996, S. 61). „Religion“ (shukyo) hingegen bezeichnet eine Gruppe oder Bewegung, die einheitlich auf einen Gründer oder Führer, auf eine Lehre und bestimmte Gruppenaktivitäten ausgerichtet ist. Anhänger einer Religion würden gezwungen, das eigene Denken aufzugeben und die Formulierungen eines anderen unverändert zu den eigenen zu machen (ibid., S. 52ff., 61).
    Moriokas eigener Darstellung zufolge waren es die Ereignisse um die Omu Shinrikyo, die es ihm ermöglichten, die „Krankheit des Herzens“, die er viele Jahre lang unterdrückt hatte, zuzulassen (Morioka 1996, S. 228) und sich von der organisierten [681-682] Religion endgültig zu distanzieren. In den irregeleiteten jungen Wissenschaftlern, die in den Laboren der Omu Shinrikyo das Giftgas Sarin produzierten, entdeckte er sich selbst wieder. Der Kern dessen, was er als Lebenshilfe für das „religionslose Zeitalter“ anbietet, ist die Nacherzählung seiner eigenen geistigen Versuche und Irrtümer.
    Zwischen zwei gleichermaßen unbefriedigenden Wegen, dem der modernen Naturwissenschaften, die die Fragen nach der Bedeutung der Welt und des Seins ausgeblendet haben, und der Religion, die auf dem Glauben beruht, begründet Morioka den sogenannten „dritten Weg“ derer, die sich allein auf die Suche nach dem Sinn des Daseins begeben. Dieser Weg und die „Wissenschaft vom Leben“, seimeigaku, seien ein und dasselbe (Morioka 1996, S. 58). Mit den religiösen Ideen, die Moriokas „drittem Weg“ die Richtung geben, steht er allerdings nicht im luftleeren Raum. Sie tragen die Züge seiner Erfahrung mit der Lehre des Qi Gong (jap. kiko) und spiegeln den Inhalt der Bücher über Meditation und Yoga, die er als Student mit großem Interesse las (ibid., S. 97).
    Seimeigaku als religiöser oder spiritueller Weg postuliert nicht nur Ideen, sondern geht von ihrer Erfahrbarkeit aus. Jedoch macht die mystische Erfahrung der Ganzheit allein den Menschen nicht besser. Erleuchtung kann durch Machtgier und Geltungssucht motiviert sein (Morioka 1996, S. 8lff.), und die Erfahrung der Einheit mit dem Kosmos kann größenwahnsinnig machen (ibid., S. 88). Solche Warnungen sind im Zusammenhang mit Moriokas Entdeckung der Ambivalenz des Lebens zu verstehen, der Lebensgier, die dem Verbindenden, Heilenden des Lebens immer wieder das Trennende, Zerstörerische entgegensetzt. Zur mystischen Erfahrung der Ganzheit muß deshalb die schonungslose Selbstanalyse treten, wie Morioka sie selbst vorexerziert.


Subjektivismus und Selbstreflexivität

Die Forderung der radikalen Selbstreflexivität ist enthalten in der sogenannten „Philosophie der Unlauterkeiten“ und bildete von Anfang an ein Kernstück der seimeigaku.7 Es geht dem Autor darum, die alltägliche Verblendung aufzudecken — das, was er „die Dynamik des Sich-selbst-die-Augen-Verbindens“ (jibun jishin ni mekakushi o shite iku dainamizumu; 1996, S. 192) nennt.
    Moriokas Forderungen nach einer am Subjekt orientierten und radikal selbstreflexiven Wissenschaft lassen sich zusammenfassen in seiner Idee der Wissenschaft als „Eigengeschichte“ (jibunshi), einer Wissenschaft, die zugleich Selbsttherapie ist: [682-683]
[...] wahre Wissenschaft muß „Eigengeschichte“ sein [...]. Erst wenn sie durch „Eigengeschichte“ verbürgt sind, beginnen die Geisteswissenschaften zu leuchten. [...] Die Wissenschaft, die ich anstrebe, wird daher auch das „Widerliche der Selbstgerechtigkeit“ und den „Morast der Macht“ als zu mir gehörig akzeptieren, aber gleichzeitig die „Liebe“ und die „Ethik“, die darauf nicht zu reduzieren sind, nicht aus dem Blick verlieren. Sie wird eine sich endlos fortsetzende Auseinandersetzung mit diesen Dingen sein, ein Kampf ohne Ausgang (Inoue/Morioka 1995, S. 172).
Das Postulat der „Eigengeschichte“ ist auch Kritik an den Prämissen und Methoden der Naturwissenschaften. Es gebe Phänomene, die durch ein Folgeexperiment nicht wiederholbar und nicht als Gesetz formulierbar seien. Dazu gehöre das unersetzliche, unverwechselbare Leben des einzelnen (Morioka 1996, S. 44ff.) — das Leben, das in Form der „Eigengeschichte“ zur Basis von Moriokas neuer Wissenschaft wird.
    Die Verbindung von Wissenschaft und „Religiosität“, die zur Idee der „Eigengeschichte“ führt, manifestiert sich in Moriokas Schriften nicht nur in inhaltlicher Hinsicht. Auf seiner Suche nach einem neuen Paradigma experimentiert Morioka auch mit neuen Formen der Darstellung, die nach seinen Worten nicht der formalen, sondern einer „visuellen“ Logik (kashi ronrigaku) folgen (Morioka 1993a, S. 188). Exemplarisch ist die sich über 15 Buchseiten erstreckende, im Stil einer „Bilderkette“ (imeji rensa) imaginierte Bewußtseinsreise des „Traumnavigators“. Den Eindruck, daß es sich bei der Reise des „Traumnavigators“ um eine Art Schamanenreise handele, bestätigt der Autor zum Schluß selbst:
Der Traumnavigator ist der Vermittler (baitai), das Medium (media), und also der Schamane (shaman), der das Unbewußte der Gesellschaft (shakai no muishiki) von den tiefen zu den oberen Schichten bringt und die Gesellschaft träumen läßt (Morioka 1993a, S. 203).
Der Schamane, der sich selbst heilt und dadurch Kräfte gewinnt, um die Gesellschaft zu heilen. Der Autor, der sich selbst therapiert und dadurch zum Vorbild für seine Leser wird. Der Wissenschaftler, der die eigene „Krankheit“ zuläßt und dadurch Einsicht in die Natur des Lebens gewinnt.


Morioka Masahiro - ein „spiritueller Intellektueller“?

Auf die schamanistische Pose bestimmter Vertreter der japanischen Geisteswissenschaften hat Lisette Gebhardt hingewiesen (Gebhardt 1996 und 2000). Shimazono Susumu hat für solche, aus dem Diskurs der sogenannten „Geistigen Welt“ (seishin sekai), des japanischen New Age,8 schöpfende und diesen Diskurs wiederum speisende [683/684] Wissenschaftler den Begriff des „spirituellen Intellektuellen“ (reiseiteki chishikijin) geprägt (Shimazono 1993, 1996, S. 247ff.; vgl. auch Prohl 1999 und Wöhr l997) und hat auch Morioka Masahiro als einen ihrer Vertreter vorgestellt.9
    Ein Merkmal der so bezeichneten Akademiker ist der kommerzielle Erfolg ihrer Schriften (Shimazono 1996, S. 251). Der in Japan besonders große populärwissenschaftliche Büchermarkt veranlaßt nicht nur „spirituelle“ Wissenschaftler dazu, sich immer wieder auch an ein allgemeines Publikum zu wenden. So wirkt der Markt als öffentlicher Raum, auf dem die Bedeutungen ausgehandelt werden, in vielfältiger Weise züruck auf die Wissensproduktion.10
    Eine Besonderheit Moriokas besteht in seiner Reflexion dieser Umstände. Die Tatsache, daß vor allem in den Geisteswissenschaften „reines“ wissenschaftliches Wissen und „unreines“ popularisiertes Wissen kaum mehr voneinander zu trennen sind, spiegelt sich in den grundlegenden Forderungen der seimeigaku: In der Kritik am sogenannten „Akademismus“, im egalitären Konzept des „Laientums“ sowie in Moriokas ausdrüklicher Einladung an seine Leser, sich an dem Projekt der seimeigaku zu beteiligen. Auch ein Autor wie Umehara Takeshi,11 der von Shimazono immer wieder als Paradebeispiel des „spirituellen Intellektuellen“ angeführt wird (z. B. 1993, S. 12ff.), kritisiert den cartesianischen Dualismus der westlichen Wissenschaft, aber dies findet keinen Ausdruck in der Haltung, den dieser gegenüber seinem Publikum einnimmt, noch in konkreter Kritik an akademischen Institutionen. Moriokas Ablehnung des „Akademismus“, dem er selbst seine Stellung verdankt, seine öffentliche Kritik an den hierarchischen Strukturen seines eigenen Forschungsinstituts (Inoue/Morioka 1995, S. 160) und an akademischen Autoritäten wie Umehara Takeshi kann gewiß auch als schizophren bezeichnet werden. Immerhin wirkt seine Respektlosigkeit jedoch erfrischend und mag durchaus zum Erfolg seiner Bücher beigetragen haben. [684-685]
    Die Nähe der Ideen Moriokas zu denen der seishin sekai ist nicht zu bestreiten. Die Sorge um die Zukunft des Planeten, die Hoffnung auf Heilung durch Bewußtseinswandel, die mehr oder weniger selbstgewählte Isolation, die Ablehnung sowohl der herkömmlichen „Erlösungsreligionen“ als auch des modernen Rationalismus und der modernen Wissenschaft zugunsten eines sogenannten „dritten Weges“, eines „neuen Paradigmas“, kennzeichnen die Vorstellungen der seishin sekai (Shimazono 1996, S. 1ff. des Vorworts und S. 9ff.) ebenso wie die Schriften Moriokas. Als „Theologe“ der seishin sekai (ibid., S. 250) erweist sich Morioka auch durch den Anleitungscharakter seiner Schriften und durch deren appellativen, suggestiven Ton. Und doch unterscheidet sich Morioka von den bei Shimazono als typisch beschriebenen „spirituellen Intellektuellen“. Die Kritik Moriokas an Umehara Takeshi macht diesen Unterschied deutlich.
    Moriokas Stellungnahme zu Umeharas Ausführungen über die japanische Kultur und Religion konzentriert sich auf zwei Punkte. Der erste Einwand bezieht sich auf Umeharas Hoffnung, daß die Welt vor den zerstörerischen Auswirkungen der auf dem cartesianischen Denken beruhenden modernen Zivilisation durch eine Rückkehr zur Harmonie und Ganzheitlichkeit der Natur bzw. des Lebens gerettet werden könne. Demgegenüber verweist Morioka auf die Gier und Zerstörungswut, die dem Leben selbst innewohne (Morioka 1994a, S. 140-193). Moriokas Kritik an Umehara richtet sich außerdem gegen dessen nationalen Chauvinismus: Aufgrund ihrer Orientierung an der Natur und der daraus resultierenden Harmonie, so Umehara, sei die japanische Kultur dafür prädestiniert, die Welt vor dem Untergang zu retten.12 Morioka schreibt dagegen: „Die Betrachtung der Welt aufgrund einer Einteilung in ,West und Ost‘ ist doch ein Anachronismus. Dieses Paradigma galt vor mehr als einem Jahrhundert“ (Morioka 1994a, S. 41f.).
    Moriokas Kritik am „Ökonationalismus“ beruht auf der Erkenntnis, daß es die „selbstsüchtige“ Natur des Lebens sei, die die technische Zivilisation hervorgebracht habe. Seine Zivilisationskritik kann daher logischerweise keine simple Kritik am Westen oder an der modernen Zivilisation sein, wie sie Shimazono zufolge bei typischen Vertretern der „spirituellen Intellektuellen“ (Shimazono 1996, S. 384f.) zu finden ist. Die Kritik an Umehara sei aber, so bekennt Morioka, auch Kritik an den [685-686] Thesen, die er selbst vertreten habe, als sein Denken noch durch das Paradigma des New Age13 und der Ökologiebewegung befangen gewesen sei (1994a, S. 199, 202).
    Morioka selbst distanziert sich also ausdrücklich von dem, was Shimazono als „neue spirituelle Bewegung“ bezeichnet, und doch ist er zweifellos einer der „Ideologen“ (Shimazono 1993, S. 12) dieser Bewegung. Drei Gründe lassen sich dafür nennen:
    Moriokas Ideen sind, erstens, zwar nicht chauvinistisch, aber sie sind deshalb keineswegs relativistisch. Seine Erforschung der „Natur des Lebens“ geschieht von einem universalistischen Standpunkt aus, und seine seimeigaku soll möglichst universelle Konzepte für ein gutes Leben und heilsames Denken entwickeln (Morioka 1993b, S. 37). Sein humanistischer Universalismus bedingt den letztlich normativen Charakter seiner Schriften. Darin bleibt er sich selbst als Ethiker treu.
    Zweitens gibt Morioka bei allem Realismus hinsichtlich der Selbstsucht des Menschen die Hoffnung, ja die Gewißheit der Heilung nicht auf. Nach einer die „Lebensgier“ ins Auge fassenden, gründlichen Zivilisationskritik müsse die seimeigaku deshalb die „andere Natur“ des Menschen aufspüren, die über die gegenwärtige Zivilisation hinausweise (Morioka 1994a, S. 193).
    Der dritte und wichtigste Grund für Moriokas Affinität zur seishin sekai besteht eben in seiner Ambivalenz gegenüber dem, was er selbst als „modern“ bezeichnet: Atomisierung der Gesellschaft, Kommerzialisierung und Technisierung. Sein Oszillieren zwischen Modernekritik und einer affirmativen Haltung gegenüber modernen Phänomenen reflektiert die scheinbare Widersprüchlicnkeit, wie sie auch in der japanischen Variante des New Age ausgeprägt ist: monistische Lehren auf der einen und selbstgewählte Isolation auf der anderen Seite; Kapitalismuskritik und Kommerzialisierung; Bewußtseinsentwicklung und Hochtechnologie.
    Die Antwort des Religionswissenschaftlers Shimazono auf diese Widersprüche beruht darin, sowohl die Intellektuellen als auch die Bewegung unter den Begriff des „Postmodernismus“ zu subsumieren (Shimazono 1996, S. 363), um mithilfe bestehender Konzeptionalisierungen der Postmoderne „zu einem präzisen Verständnis dessen [zu] gelangen, was die neue spirituelle Bewegung von der Moderne [kindai] unterscheidet“ (ibid., S. 366).
    Ich plädiere im Gefolge von Autorinnen und Autoren wie Rita Felski (1995), Cornelia Klinger (1995) und Horst Stenger (1993) dafür, Subjektivismus und alternative Realitätsentwürfe nicht als entweder reaktionäre oder progressive Gegenbewegungen zur Moderne bzw. Modernisierung zu betrachten, sondern sie als „gleichrangige ,Akteure‘ im Modernisierungsprozeß ernstzunehmen“ (Klinger 1995, S. 8). Dies bedeutet [686/687] , die seishin sekai im allgemeinen und einen Autor wie Morioka Masahiro im besonderen nicht als „postmodern“, sondern gerade ihre Gegenentwürfe, mögen sie nun rückwärtsgewandt oder utopisch erscheinen, als Ausdruck durch und durch modernen „Sinn-Bastelns“ zu betrachten (Stenger 1993, S. 53).
    Moriokas alternative Wirklichkeiten offenbaren sich jedoch nicht in utopischen Visionen, sondern in der Sinn- oder Identitätssuche, die der Autor seinen Leserinnen und Lesern exemplarisch vorführt. In Moriokas eigenem Entwicklungsgang so, wie er selbst ihn für sein Lesepublikum rekonstruiert, ragen als „biographische Brüche“ (Stenger 1993, S. 53) erfahrene Situationen heraus: Die Desillusionierung nach dem Beginn des Physikstudiums, der aggressive Gefühlsausbruch gegenüber seinem eigenen Kind und das Ende der Omu Shinrikyo. Dies sind, nach Stenger, „vom kulturellen System moderner Gesellschaften produzierte Situationen“, die „systematisch die existentielle Aufforderung (scheinbar) privater Sinnsuche und Sinnstiftung enthalten“ (ibid.). Der Erfolg von New Age und Esoterik basiert, so Stenger, darauf, daß sie dem Subjekt bei der Entwicklung der „Kompetenz des ,Sinn-Bastelns‘“ nützlich sind (ibid.). „Reflexive Distanz“ ermögliche dem modernen Menschen „Gestaltung und Entscheidung hinsichtlich eigener Identität“ und sei gleichzeitig verantwortlich für das Symptom des Zweifels, das wiederum in die reflexiven Prozesse einbezogen werde (ibid., S. 49).
    Diese Integration des Zweifels, ja seine Erhöhung zum Prinzip ist es, die Morioka grundsätzlich von einem Autor wie Umehara, der seinen Leserinnen und Lesern lediglich einen romantischen Gegenentwurf zu ihrer Gegenwart liefert, unterscheidet. Insofern hat auch Moriokas Schwanken zwischen Moderne-Bejahung und Moderne-Kritik System. Hier kann nur spekuliert werden, ob Moriokas gebrochene Identitäten für das „Sinn-Basteln“ moderner Japanerinnen und Japaner vielleicht hilfreicher sind als Umeharas heile Welten. Der zukünftige Erfolg von Moriokas Werken wird es zeigen.



1 Morioka Masahiro (*1958) wechselte 1988 von der Universität Tokyo, an der er als Assistent tätig gewesen war, an das damals soeben gegründete Internationale Forschungszentrum für Japanische Kultur (Kokusai Nihon Bunka Kenkyu Senta), eine zentrale staatliche Forschungseinrichtung nicht ohne politischen Auftrag. Seit 1997 ist er Professor der Präfekturalen Universität Osaka (Osaka Furitsu Daigaku).
2 Moriokas bisher erfolgreichste Veröffentlichung, das Taschenbuch Seimeikan o toinaosu („Eine neue Sicht des Lebens“, 1994), erschien mit einer Auflage von inzwischen 38.000 Exemplaren (Morioka 1999, im Abschnitt „Chosho shokai: Tankobon“, Punkt 4). Populäre Fernsehauftritte waren zum Beispiel die Teilnahme an der nächtlichen Live-Talkshow Asa nama terebi des Senders Asahi Terebi zum Thema „Omu Shinrikyo“ im Sommer 1995 und seine 1997 vom öffentlichen Kanal NHK ausgestrahlte eigene Sendung Seiro byoshi no genzai („Leben, Krankheit, Alter und Tod in unserer Gegenwart“; NHK).
3 Zu Moriokas pro-feministischer Einstellung siehe Inoue/Morioka 1995, S. 12ff. und 1996, S. 202ff.
4 Mit der Benutzung des Terminus „Unlauterkeiten“ begibt Morioka sich in die Ideenwelt des Buddhismus, obwohl er sich in der Erläuterung seines Konzepts (vgl. Morioka 1996, S. 133ff.) nicht auf diesen bezieht. Die sogenannten Unlauterkeiten (bonno ; sanskr. klésa) - allen voran Gier, Haß und Wahn - gelten im mahayana-Buddhismus ursprünglich als das eigentliche Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung (satori; sanskr. bodhi). Andererseits gewann im Laufe der Geschichte des mahayana-Buddhismus auch die Auffassung an Bedeutung, daß der Mensch jenen Unlauterkeiten letztlich niemals ganz entrinnen könne, Erleuchtung aber dennoch möglich sei.
5 Siehe hierzu die Kritik des blinden Informatikers Ishikawa Jun, der darauf hinweist, daß es sich erst aufgrund der sozialen Bedingungen, unter denen elektronische Medien in der Alten- und Behindertenarbeit zur Anwendung kämen, entscheiden werde, ob diese das Leben der Betroffenen menschlicher oder unmenschlicher machen (1996, S. 49f.). Auf seiner Homepage verweist Morioka selbst auf diese Kritik und bedankt sich ausdrücklich dafür (Morioka 1999, Abschnitt „Chosho shokai: Kyocho, taidan“, Punkt 2).
6 Der Zeichentrickfilm „Kaze no tani no Naushika“ war in Deutschland Ende der 1980er Jahre als auf einer amerikanischen gekürzten Version basierendes Video (UFA) mit dem Titel „Sternenkrieger“ erhältlich. Derzeit ist eine neue, ungekürzte Synchronfassung des Films bei Walt Disney in Vorbereitung. Hinweise hierzu verdanke ich Nina Olligschläger. Vgl. auch die Internet-Homepage <http://www.nausikaa.net> (Nachtrag Februar 2004: Diese Homepage besteht nicht mehr).
7 Bereits in seiner ersten Buchpublikation verweist Morioka auf das von jedem/jeder einzelnen errichtete System der Selbstgerechtigkeit und der Selbstrechtfertigung, das wir erkennen und auflösen müßten (1988, S. 239ff.); vgl. auch Inoue/Morioka 1995, S. 172.
8 Shimazono verwendet den Begriff Shin reisei undo/bunka („neue spirituelle Bewegung/Kultur“), um New Age und seishin sekai als ein einziges globales Phänomen zu erfassen. Hier soll jedoch weiterhin der Begriff seishin sekai verwendet werden, da von der japanischen Ausprägung dieser Erscheinung die Rede ist.
9 Über den „Schamanismus im New Age“ vgl. Zinser 1989.
10 Vgl. Frühstück 1995, S. 3. Diese bezieht sich auf Felt/Nowotny/Taschwer 1992.
11 Umehara Takeshi (geb. 1925) studierte abendländische Philosophie an der Universität Kyoto. Er lehrte zunächst an der Ritsumeikan-Universität und später an der Städtischen Kunsthochschule Kyoto und wurde 1987 als Gründungsdirektor an das Internationale Forschungszentrum für Japanische Kultur (Kokusai Nihon Bunka Kenkyu Senta) berufen. Nach seinem Studium hatte Umehara sich der japanischen Geistesgeschichte, zunächst der Existenzialphilosophie des Buddhismus, zugewandt. In den sechziger Jahren begann er, zum Thema „Shinto“ zu publizieren, und hat seither zahlreiche populäre Bücher über die „ursprüngliche“, „animistische“ japanische Religion geschrieben, in der Mensch und Natur durch die „Lebenskraft“ (seimei) miteinander verbunden seien (Prohl 1999, S. 20ff.; Shimazono 1993, S. 12ff.).
12 Diese Kritik an Umehara äußert Morioka nur indirekt: Er zitiert einen Zeitungsartikel, der sich darauf beruft, daß Umehara die „westliche Kultur“ als eine „Kultur des Zorns und der Gewalt“ und die „östliche Kultur“ als eine „Kultur der inneren Ruhe und der Barmherzigkeit“ bezeichnet. Zwar könne er aufgrund der fehlenden Literaturangabe nicht nachprüfen, ob Umehara dies tatsächlich geschrieben habe, aber die in dem Zitat gemachte Aussage sei eindeutig falsch (Morioka 1994a, S. 40). Es läßt sich leicht feststellen, daß Umehara sich tatsächlich so äußert: vgl. Umehara 1976, S. 54ff. Siehe auch Prohl 1999, S. 24, 25f.; Shimazono 1993, S. 15; Wöhr 1997, S. 404ff.
13 Morioka benutzt hier den Begriff nyu saiensu („ new science “), unter dem das westliche „New Age“ in Japan zunächst Verbreitung fand (vgl. Morioka 1994a, S. 97).

 

Literatur

Felski, Rita (1995): The Gender of Modernity. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
Felt, Ulrike, Helga Nowotny und Klaus Taschwer (Hg.) (1992): Die sozialen Kontexte von Wissenschaft. Wien: Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung der Universität Wien.
Frühstück, Sabine(1995): Die Politik der Sexualwissenschaft. Zur Produktion und Popularisierung sexologischen Wissens in Japan 1908-1941. Wien: Institut für Japanologie der Universität Wien. [687/688]
Gebhardt, Lisette(1996): Ikai: Der Diskurs zur „Anderen Welt“ als Manifestation der japanischen Selbstfindungsdebatte. In: Irmela Hijiya-Kirschnereit (Hg.): Überwindung der Moderne? Japan am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 146-171.
- (2000): „Die Herren der Geister“ oder warum man in Japan gegenwärtig so viel Geisterforschung betreibt. In: Japan Welten. Aspekte der deutschsprachigen Japanforschung. Bonn: Bier’sche Verlagsanstalt (= JapanArchiv Band 3), S. 437-453.
Inoue Shoichi und Morioka Masahiro (1995): Otoko wa sekai o sukueru ka. Tokyo: Chikuma Shobo.
Ishikawa Jun (1996): Kyosei no intafeisu. Denno fukushiron ni yosete. In: Shakai rinsho zasshi Bd. 3, Nr. 3, S. 49-58.
Klinger, Cornelia (1995): Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten. München, Wien: Hanser.
Morioka Masahiro (1988): Seimeigaku e no shotai. Tokyo: Keiso Shobo.
- (1993a): Ishiki tsushin. Dorimu nabigeita no tanjo. Tokyo: Chikuma Shobo.
- (1993b): The Concept of Inochi: A Philosophical Perspective on the Study of Life. In: Global Bioethics, Bd. 6, Nr. l, S. 35-59.
- (1994a): Seimeikan o toinaosu. Ekoroji kara noshi made. Chikuma Shobo.
- (1994b): Denno fukushi ron. Tokyo: Gakuensha.
- (Hg.) (1994c): Sasaeai no ningengaku. Kyoto: Hozokan.
- (1996): Shukyo naki jidai o ikiru tame ni. Kyoto: Hozokan.
- (1997): Jibun to mukiau chi no hoho. Tokyo und Kyoto: PHP Kenkyujo.
- (1999): Morioka Masahiro no seimeigaku homupeji (Life Studies Homepage). In: <http://member.nifty.ne.jp/lifestudies/> (Stand vom 30. November, Zugriff am 3. Dezember). Nachtrag Februar 2004: Die neue URL dieser Homepage lautet <http://www.lifestudies.org>.
Prohl, Inken (2000): Die „spirituellen Intellektuellen“ und das New Age in Japan. Hamburg: Gesellschaft für Natur und Völkerkunde Ostasiens.
Schilling, Mark (1997): The Encyclopedia of Japanese Pop Culture. New York: Weatherhill.
Shimazono Susumu (1993): New Age and Spiritual Movements. The Role of Spiritual Intellectuals. In: Syzygy: Journal of Alternative Religion and Culture, Bd. 2, Nr. 1-2, S. 9-22.
- (1996). Seishin sekai no yukue. Gendai sekai to shin reisei undo. Tokyo: Tokyodo Shuppan.
Stenger, Horst (1993): Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. Eine Soziologie des „New Age“. Opladen: Leske und Budrich.
Umehara Takeshi (1976): Nihon bunka ron. Tokyo: Kodansha.
Yamaori Tetsuo (1995): Ganryu jima no ketto. In: Morioka Masahiro und Inoue Shoichi: Otoko wa sekai o sukueru ka, Tokyo: Chikuma Shobo, S. 183-186. [688/689]
Wöhr, Ulrike,1997: Death in Present-day Japan. Changing the Image of an Immutable Fact of Life. In: Asiatische Studien/Etudes Asiatiques Bd. LI, Nr. 1, S. 387-419.
Zinser, Hartmut,1989: Schamanismus im „New Age“. In: Matthias Pilger und Steffi Rink (Hg.): Zwischen den Zeiten. Das New Age in der Diskussion. Marburg: diagonal Verlag, S. 63-71.